Olaf Neumann & Bianca C. Dreyer


Unter Berater*innen und sozialarbeitenden Menschen ist der Name Stevan E. Hobfoll in aller Regel ein Begriff. Beschäftigt man sich in seiner beraterischen Praxis mit Ressourcenorientierung wird man früher oder später auf seine Theorie der Ressourcenerhaltung (engl. Conservation of Resources Theory =  COR-Theorie) stoßen. Auch für den Katstrophenschutz (und hier speziell für die Psychosoziale Notfallversorgung, kurz PSNV) ist die COR-Theorie grundlegend, weil aus dieser Perspektive Ressourcengewinne in verlustreichen Situationen vermehrte Bedeutung zugeschrieben wird. „Insofern werden Ressourcengewinne, die unter weniger stressreichen Bedingungen als belanglos angesehen werden, plötzlich unter sehr stressreichen Bedingungen zum Rettungsanker für Überleben, Rehabilitation und Genesung.“ (Buchwald & Hobfoll, 2021, S. 84)

„Die Leitlinien und Qualitätsstandards der Psychosozialen Notfallversorgung in Deutschland orientieren sich in ihren Handlungsempfehlungen (BBK, 2012) an einer 2007 von 20 international ausgewiesenen Experten veröffentlichen Review zur Wirksamkeit von Methoden der kurz- und mittelfristigen Notfallversorgung nach Großschadenslagen.“ (Leuschner, Sommer & Neumann, 2020, S. 234) Die sog. „five essential elements“ (Hobfoll et al. 2007) sind wahrscheinlich jeder bei einer MANV[1]-Lage zum Einsatz kommenden PSNV-Kraft in Deutschland als handlungsleitend bekannt.

Insofern war es für die bundesdeutsche Diskussion um die weitere Ausgestaltung der PSNV in Großschadenslagen von herausragender Bedeutung, dass Stevan E. Hobfoll Ende 2023 in Berlin zu Gast war. Im Rahmen des IFAF-Transfer-Projektes „PSNV-NET Plus[2]“ trat er am 18.Dezember beim 7. Fachsymposium zum Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz als Keynote speaker auf. In der anschließenden Woche nahm er nicht nur an der Gedenkveranstaltung zum Terroranschlag am Breitscheidplatz teil, er hielt auch öffentliche Vorträge vor Wissenschaftler*innen, Promovierenden und Praktiker*innen der Krisenintervention und Notfallversorgung.

Der Berliner gemeindepsychologische Stammtisch hatte die Freude ihn und Prof. Dr. Petra Buchwald am 20.Dezember zu einer Gesprächsrunde in den Räumen von Transfair[3] im Wedding begrüßen zu können. Gemeindepsycholg*innen und weitere Interessierte waren online zugeschaltet. Hier nun eine kurze persönliche Zusammenfassung der Diskussion von Bianca C. Dreyer:

Für eine*n Gemeindepsychologin/en (Community psychologist) gibt es wohl kaum eine kontroversere Aussage als „die Gemeindepsychologie muss weniger politisch werden“. Doch genau so eröffnete Stevan die Gesprächsrunde der Gemeinpsycholog*innen in Berlin.

Grundlage der Aussage sind seine Theorie der Ressourcenerhaltung und sein zuletzt erschienenes Buch ‚Tribalism: The Evolutionary Origins of Fear Politics‘ (Hobfoll, 2018).

Stevan deckt darin die ursprünglichsten Beweggründe hinter den angstpolitischen Bewegungen auf, die in den USA, Europa und dem Nahen Osten grassieren – die evolutionspsychologische Reaktion des ‚Stammesdenkens‘ (Tribal thinking).  Er teilte seine theoretischen Überlegungen und Forschungsprojekte, die untersuchen, wie das zunehmende Gefühl der Bedrohung durch den/die politische/n und kulturelle/n „Andere*n“ oder „Außenseiter*in“ eine evolutionäre Struktur hervorbringt – die Stämme (Tribes), und die Reaktion der Aggression und Verteidigung. Verteidigt werden vor allem Ressourcen die dem Erhalt des psychischen und physischen Wohlbefindens dienen (Buchwald & Hobfoll, 2021).

Um sich auf Stevan’s Ideen einzulassen, bedarf es eine gehörige Portion Offenheit und Mut. Schnell neigt man dazu, dass die eigene persönliche Meinung das Urteilsvermögen über Stevans Thesen trübt. Schließlich geht es um grundlegende Fragen der Disziplin: soziale „Gerechtigkeit, Gleichheit oder Chancengleichheit, Anerkennung von Vielfalt und Diversität, Recht auf soziales und kulturelles Kapital sowie individuelle und kollektive Selbstbestimmung“ (Röhrle, 2023).

Im Gespräch kommen wir immer wieder darauf zurück, dass Veränderungsprozesse – besonders hinsichtlich mehr Gerechtigkeit – alle Menschen mitnehmen und auch die Ängste der „Extremkonservativen“ ernst nehmen müssen. Das ist zum Teil schwer zu schlucken, da besonders rechtsradikale Denkweisen für die Anwesenden nicht nachvollziehbar und vollkommen inakzeptabel sind. Jedoch braucht es gar nicht so extrem zu werden. Auch die Debatte um genderneutrale Toiletten feuert die Debatte an dem Abend an. Haben linksliberale Aktivist*innen zu schnell zu viel verlangt und dadurch die Gegenbewegung bestärkt? Wie können Ängste ernst genommen werden als wichtige Indikatoren gesellschaftlicher Transformationsprozesse, ohne den Wandel, den wir uns wünschen, auszubremsen?

Letztendlich bietet Stevan einen Einblick, warum sich die Menschen der konservativen, ängstlichen Rechten so verhalten, wie sie es tun, und warum progressive, liberale Menschen sich den Beweggründen und psychologischen Ursachen von ‚fear politics‘ bewusster werden müssen. Stevan bezeichnet sich selbst als Liberalen, ist aber bereit, die Linke dafür zu kritisieren, dass sie die Bedeutung evolutionärer Trigger nicht erkannt hat.

Den Abend enden wir nicht mit einem Blueprint, wie die Gemeindepsychologie wirksamer werden kann – jedoch mit einem klaren Appell sich nicht von politischer Parteizugehörigkeit einschränken zu lassen, sondern politische Ziele durch mehr Zusammenschlüsse voran zu treiben. Ob wir das schaffen, werden die nächsten Jahre zeigen.


Referenzen

Buchwald, P., & Hobfoll, S. E. (2021). Die Theorie der Ressourcenerhaltung: Implikationen für Stress und Kultur. Handbuch Stress und Kultur: Interkulturelle und kulturvergleichende Perspektiven, 77-89.

Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) (2012) (Hg.): Psychosoziale Notfallversorgung: Qualitätsstandards und Leitlinien. Teil I und II. In: Praxis im Bevölkerungsschutz, Bd. 7. Bonn: Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK).

Hobfoll, S. E. (2018). Tribalism: The evolutionary origins of fear politics. Springer.

Hobfoll, S.E., Watson, P., Bell, C.C./Bryant, R., Brymer, M.J., Friedman, M.J., Friedman, M., Gersons, B.P.R., TVM de Jong, J., Layne, C.M., Maguen, S., Neria, Y., Norwood, A.E., Pynoos, R.S., Reissman, D., Ruzek, J.I., Solomon, A.Y.Z., Steinberg, A.M. & Ursano, R.J. (2007): Five Essential Elements of Immediate and Mid-Term Mass Trauma Intervention: Empirical Evidence. Psychiatry, 70 (4), 283-315.

Leuschner, V., Sommer, F. & Neumann, O. (2020): Psychosoziale Bedürfnisse Betroffener von Terroranschlägen und adäquate Unterstützungsangebote aus kriminologisch-viktimologischer und psychologischer Perspektive. In: Grafl, Ch., Stempkowski, M., Beclin, K. & Haider, I.  (Hrsg.): „Sag, wie hast du’s mit der Kriminologie?“ – Die Kriminologie im Gespräch mit ihren Nachbardisziplinen. Neue Kriminologische Schriftreihe der Kriminologischen Gesellschaft e.V., Band 118. Forum Verlag Godesberg, 229-244.

Röhrle, B. (2023). Gemeindepsychologische Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden. Online unter: https://leitbegriffe.bzga.de/alphabetisches-verzeichnis/gemeindepsychologische-perspektiven-auf-gesundheit-und-krankheit/


[1] Massenanfall von Verletzten

[2] https://www.ifaf-berlin.de/projekte/psnv-net-plus/

[3] https://transver-berlin.de