Digitalisierung: Eröffnung von Möglichkeitsräumen oder „spätmodernes Resonanzdesaster“1?

Eines der am unmittelbarsten erlebbaren „Kollateralphänomene“ der Coronakrise besteht in einem Digitalisierungsschub, der sowohl das Privatleben als auch das berufliche Handeln der meisten Menschen in unserer Gesellschaft unmittelbar beeinflusst. Aus gemeindepsychologischer Sicht erscheint hier vor allem der Doppelcharakter von Ermöglichung einerseits und Entfremdung andererseits interessant: Ermöglichung von Kontakt, Vernetzung, gesellschaftlicher Organisation. Entfremdung im Sinne eines Empfindens, wonach der Kontakt zwischen Menschen an Unmittelbarkeit einbüßt, indem er immer stärker als etwas technologisch Vermitteltes hervortritt. Der im Home-Office verortete Arbeitnehmer, der nur noch mittels Bildschirm mit einer Außenwelt in Kontakt tritt, deren raum-zeitliche Organisation sich bis zur Unkenntlichkeit entgrenzt, droht zum Sinnbild der Gesellschaft der Zukunft zu werden.
Unter den Bedingungen der erzwungenen Isolation und Kontaktbeschränkungen wurden von Anfang an kreative Lösungen gefunden, um Arbeit und gesellschaftliches Leben weiterhin aufrecht zu erhalten. Festzustellen bleibt, dass diese Lösungen in ihrer überwiegenden Mehrheit technischer Voraussetzungen bedürfen: Videokonferenzen und Livestreams wurden zu den gebräuchlichsten Werkzeugen für Kommunikation, Präsentation, Repräsentation und Performanz. Mit dem, was gezeigt und diskutiert wurde, wurde zugleich aber auch der Verlust dessen spürbar, was Zwischenmenschlichkeit und „Sinnlichkeit“ auch ausmacht. Bieten Online-Unterricht für Grundschüler*innen, virtueller Museumsrundgang und Online-Kurse für Progressive Muskelrelaxation zusätzliche Entfaltungsmöglichkeiten oder fungieren sie lediglich als kaum noch spürbare Prothesen für eine ausgeprägte Erfahrungsarmut in einer mit Sinnesreizen überladenen Welt? Bietet das Arbeiten im Home-Office den Frauen (und Männern) Möglichkeiten, Familienarbeit und Berufstätigkeit besser zu koordinieren oder wird Home-working zu einer zusätzlichen Belastung vor allem für Frauen?
Die geplante Ausgabe des „Forum Gemeindepsychologie“ setzt sich zum Ziel, die hier skizzierte Dialektik zwischen Ermöglichung und Entfremdung in ihrer Vielfalt aufzufächern. Es geht dabei um eine vertiefte Auseinandersetzung mit Phänomenen, die das Verhältnis des Subjekts zu seiner Umwelt möglicherweise in bisher nicht gekannter Weise modulieren. Dabei interessieren insbesondere Fragen der sozialen Formation, des psychologischen Erlebens und deren technologischer Vermittlung.
Es werden Beiträge erwartet, die in exemplarischer Weise Erfahrungen beschreiben, die soziale und/oder psychologische Begleiterscheinungen von Digitalisierung erhellen. Zu denken ist hier beispielsweise an Bildungssettings (Lehre an Schulen / Hochschulen / Universitäten; Weiterbildung), an alle Formen von Netzwerkarbeit, an die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (und deren inneren Online-Offline-Repräsentationen), an Erfahrungen mit Teilhabe/Partizipation/gesellschaftlicher Organisation, an körperbezogene Themen oder an explizit psychologische Settings wie Psychotherapie und Beratung. Vielleicht kann es gelingen, durch diese Beiträge die Konturen der angenommenen Dialektik zwischen Ermöglichung und Entfremdung schärfer hervortreten zu lassen, um Ansatzpunkte für gemeindepsychologische Positionen zu Problemen der Digitalisierung zu identifizieren.

Abgabetermin für Abstracts: 18. März 2022; Abgabetermin für Artikel: 15. Juli 2022.

Nähere Informationen unter: http://www.gemeindepsychologie.de/manuskripte.html. Rückfragen an den für die Ausgabe Verantwortlichen unter peatcasp@t-online.de

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1 Rosa, H. (2013). Beschleunigung und Entfremdung. Frankfurt/M.: Suhrkamp.